fbpx
Cliffs of Moher

ALLE WELT

Ach, du große grüne Insel

Foto-Journalist Hartmut Krinitz zieht es immer wieder auf die grüne Insel – nach Irland. Neben den grandiosen Landschaften, der Allpräsenz des Meeres, der irischen Musik und Literatur beeindrucken den Fotografen vor allem seine Bewohner mit ihrer heiteren Melancholie und der entschleunigten Lebensart. Nach über 25 Reisen und einem Gesamtaufenthalt von mehr als 3 Jahren entstehen atemberaubende Aufnahmen und eine Hommage an ein kleines Land und seine Bewohner. Mit seiner Reise-Reportage „Irland“ tourt Hartmut Krinitz mit uns ab dem 15. November 2016 durch Aachen, Bochum, Düsseldorf, Krefeld, Köln und Münster.

In dem Vorwort seines Buches „Abenteuer Irland“ beschreibt der Irlandkenner die Einzigartigkeit der grünen Insel. Er erzählt von überlieferte Ansichten und Traditionen, von Bewohnern wie dem Geschichtenerzähler Eddie, von Reetkates und dem Wetter. Ein schöner Einblick in seine Reise-Reportage.

„No hurry“ – „No bother“ – Keine Eile – mach Dich nicht verrückt.
Cití war gekommen, mit ihrer Flöte und ihren 91 Jahren, dazu Cathal, der vierzehnjährige, frischgekürte Banjochampion des Donegal. Éamonn, der Hausherr, junge 80 Jahre, spielte sein neues Akkordeon.
Sie saßen am knackenden Torffeuer. Es war Mai, aber der irische Frühling wollte sich nicht zeigen.
In der irischen Kultur sind sie tief verwurzelt: der Respekt vor dem Alter und die keltische Tradition der mündlichen Überlieferung. An diesem Abend tauschten Cití, Éamonn und Cathal Musikstücke untereinander aus. Es stockte, setzte neu an, fand und verlor sich und kam schließlich in Fluss – „No hurry“ – „No bother“.
Als das Feuer heruntergebrannt war verklangen die Töne, verliefen sich die Menschen, doch der Same war gesät wie seit vielen Generationen.

Wie aber steht es im 21. Jahrhundert, in den Zeiten der ewigen Beschleunigung, von Burn-out, Multitasking und Celebrity-Wahn um das „slow going“, um die viel zitierte, beschauliche irische Lebensart? Rangieren auch in Irland mittlerweile Konkurrenzdruck und Konsumgerangel vor einem recht intakten Sozialgefüge? Mancherorts sieht es auf den ersten Blick so aus. Aber auf dem Land – und was außer dem Großraum Dublin, Belfast, Cork, Limerick, Derry und Galway ist in Irland nicht Land – und allemal in den weniger touristischen Regionen ist die Moderne zwar angekommen, eher aber als Turbulenz denn als tiefgreifende Veränderung. Von heute auf morgen verschiebt sich dort nicht das ganze Weltbild, das gewachsene Gefüge. Überlieferte Ansichten und Traditionen und ein kapitalistisch geprägtes Weltbild geraten dabei gerne einmal aneinander.

Schauplatz County Clare. An der Küste, durch das Karstland des Burren, ziehen Reisende mittlerweile in großer Zahl, das Hinterland wird wenig besucht. Dort, in einem kleinen Weiler, Crusheen, einem Durchgangsort zwischen Ennis und Galway, lebt Eddie Lenihan. Wir treffen uns regelmäßig, wenn ich die Insel besuche. Eddie ist ein Chronist der besonderen Art, ein sheanachie, ein Geschichtenerzähler. Viele Jahrhunderte wurde in Irland nur mündlich überliefert, die langen Winterabende waren eine ideale Kulisse, das knisternde Torffeuer gab wenig Wärme, die Geschichten mußten helfen. Sie schilderten das raue Leben, die Tragödien und Mißernten. Im besten Fall machten sie die klamme Winternacht vergessen und gaben den Zuhörern ihren Platz in der Welt. Oft handelten sie von den Fairies, den „Good People“, Kobolden und Feen, von Biddy Early, der Hexe und Finn McCool, dem Riesen. Das Christentum war und ist jung im Vergleich zur Dominanz der Fairies in den Jahrtausenden davor.
Doch das Geschichtenerzählen geriet mehr und mehr in Vergessenheit und da die Geschichten kaum je aufgeschrieben wurden, schienen ihre Tage gezählt wie die der Alten, die noch um sie wußten. Eddie Lenihan aber wird nicht müde, die Alten zu besuchen, zu fragen, zuzuhören und zu konservieren. „Denn Leute wie uns wird es nie mehr geben“, ein Satz des großen Erzählers Tomás O´Crohan, treibt ihn an. Eddies Auftritte sind pure Magie. Er durchlebt die Geschichten – wirres Kraushaar und Rauschebart, Gestik, Mimik und Intonation tragen den Zuhörer fort. Und es sind mehr geworden in den letzten Jahren, glücklicherweise, die kommen um ihn zu hören. Eddie ist nun aber kein Mensch, der sich der Nostalgie ergibt. Vor wenigen Jahren erst hat ihn der keltische Tiger, der wirtschaftliche Höhenflug Irlands, auf den Plan gerufen. Eine Schnellstraße wurde gebaut in der Nähe von Crusheen, immer geradeaus. Die Bulldozer rollten. Ein Busch stand im Weg. Eigentlich kein Problem. Aber es ist ein „fairy bush“, ein mystischer, ein magischer Platz. Da stand auch Eddie im Weg und die Alten, die um das Erbe wissen. Auf einmal war Eddie in den Medien – Radio, Fernsehen, Zeitungen rissen sich um ihn. Und das Wunder geschah: kurzfristig wurde der Bauplan geändert, eine Verkehrsinsel verlegt. „Niemand würde eine Straße durch eine Kirche bauen, und ein mystischer Platz unserer Ahnen, der älter ist als jede Kirche, hat den gleichen Respekt verdient“ sagt Eddie und fügt lachend hinzu „Nach Moses und dem Meer gibt es nun also Eddie und den Busch“.
Solange solche Dinge geschehen und Menschen wie Eddie Irland bevölkern ist mir nicht allzusehr bange um die Insel im Westen.

Eddie Lenihan Geschichtenerzaehler

Betrachtet man das nackte Zahlenwerk zur Insel, erfährt man folgendes: maximale Ausdehnung Nord-Süd knapp 500 und Ost-West etwa 300 Kilometer. Die Fläche von stark 84.000 qkm teilt sich 1:5 zwischen Nordirland und der Republik, die Küstenlinie mißt stolze 5631 Kilometer. Letzteres zumindest läßt aufhorchen und erklärt sich doch schnell bei einem Blick auf die Karte: Südwesten, Westen und Norden sind von Buchten teilweise regelrecht zerwühlt und mit vorgelagerten Inseln dekoriert. Politisch unterteilt sich die gesamte Insel historisch in vier Provinzen: Leinster, Munster, Connaught und Ulster. Heute kennt Irland 32 Counties – 26 davon in der Republik, der Rest in Nordirland.
6.4 Millionen Menschen nennen Irland Heimat, von denen 4.6 Millionen in der Republik siedeln. Noch immer ist Irland im europäischen Vergleich ein kinderreiches Land, auch wenn der Spruch von Flann O´Brien „Die durchschnittliche irische Familie besteht aus Vater, Mutter, zwölf Kindern und dem mit ihnen lebenden holländischen Völkerkundler“ nicht mehr zeitgemäß ist – was nicht nur daran liegt, daß die holländischen Anthropologen ihre Arbeit längst beendet haben.
Thema Klima. Irlands Ruf unter dieser Überschrift ist mäßig, was in manchen, bei weitem aber nicht in allen, Fällen seine Berechtigung hat. Es stimmt, einige Gegenden der Insel gehören zu den regenreichsten Europas und leider ist auch wahr, daß es vornehmlich die schönsten Ecken trifft. Im Südwesten, in Connemara, im Donegal und an der Antrim Coast sagt „naß“ am griffigsten, was der Ire meisterlich mit „soft day“ umschreibt, der weiche Tag, an dem Nebel, drizzle oder gar richtiger Regen zumindest einen Teil des Zeit bestreiten. „Wenn dir das Wetter nicht paßt, warte einfach fünf Minuten“ sagt ein Sprichwort, das erstaunlich oft, wenn auch nicht immer hilft.
Im späten Frühling und Frühsommer sind die Tage lang, Zugvögel treiben über die Köpfe, es wird gebrütet und geblüht, eine ideale Reisezeit. Die Winterstürme haben ausgeblasen und der Golfstrom bestreicht mit seinem warmen Wasser weiterhin die Küste eines mehrheitlich kahlen Landes.

Pub Temple Bar in Dublin

Irland – Musikerland, Irland – Schriftstellerland. Die Insel hat eine weltweite treue Zuhörer- und Leserschaft, Musik- und Literaturnobelpreise zieren die Annalen und ein Ende ist nicht in Sicht. Es darf ein Geheimnis bleiben, warum diese kleine Insel so viele bedeutende Künstler hervorgebracht hat. Alleine an der Muße in den langen Winternächten kann es jedenfalls nicht liegen. Einer der vielen großen Iren, die im Exil starben, Oscar Wilde, hat in einer eigenartigen Form von Understatement einmal gesagt: „Es ist das Drama meines Lebens, daß ich diesem Leben mein Genie gewidmet habe, meinem Werk aber nur mein Talent.“ Ob Talent oder Genie, ob traditionell oder avantgardistisch, Irland liefert beständig seinen Beitrag zur Weltmusik und Literatur und die Protagonisten scheinen noch bis heute gerne einen Teil ihres Genies auf das Leben zu verwenden. Der Pub dient dabei nicht selten als Schreibstube und bunt gemischte Zone der Kommunikation in Worten und Tönen. Aber die Macdonaldisierung der Welt macht auch vor den Trinkstätten der Iren nicht halt. Was da Modernisierung heißt, entpuppt sich nicht selten als das standardisierte Werk eines Ladenbauers. Aber es gibt sie noch, die alten Originale, von der Patina der Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte belegt, mit wenig mehr sichtbarem Tribut an die Moderne als dem schimmernden Display der Registrierkasse. Abends knäult sich hier eine alterslose Gesellschaft um den ewigen Pint Stout, wenn auch das Schwarzbier zunehmend von seinen „blonden“ Mitbewerbern eingeholt wird. Noch immer gibt es diese magischen Abende, wenn jemand seine Geige auspackt, ein anderer sich erinnert, daß er seine Handtrommel, die Bodhran, dabei hat und irgendwoher auch noch eine Gitarre auftaucht und zwei Löffel. Da ist wenig abgesprochen und nichts geplant, aber an einem Abend durfte ich erleben, daß sich über 20 Musiker(innen) zu einer zwanglosen Session zusammenfanden. Wenn dann noch eine Irin ihre glasklare Stimme erhebt und zu einem a capella Stück ansetzt, kehrt eine Stille ein, die zur Ruhe wird, eine Ruhe, die weiterträgt ins Jenseits der Tür, ein Krümel Ewigkeit im Nieselregen der Nacht.

County Donegal

Neben Regenbogen, sommerbesprossten Rothaarigen, Kleeblättern, Schwarzbier und Irish Folk bleibt die Reetkate ein unumstößliches Ausstattungsmerkmal aller Irlandträume.
Warum, habe ich Reisende immer wieder fragen hören, warum renovieren die Iren nicht einfach ihre alten Katen statt überall neue Häuser zu bauen, die dem folkloristischen Blickwinkel nicht standhalten? Heute kommen meist nur noch Ferienhäuser und Souvenirshops reetgedeckt daher. Jahrhundertelang aber waren die Katen, die Cottages, das Zuhause der einfachen Landbewohner. Ausgepresst von der Fron des englischen Großgrundbesitzers kämpften sie mit der Übermacht der Steine und den Unbilden des Wetters. Doch damit nicht genug, es sollte schlimmer kommen.
Nach 1845 gab es mehrere schlimme Missernten beim Hauptnahrungsmittel der armen Landbevölkerung, der Kartoffel. Gruppen von Verhungernden zogen über das Land. Die meisten englischen Landlords verschlossen die Tore der Anwesen und ihre Augen vor dem Elend, viel schlimmer noch, Nahrung wurde munter weiter exportiert. Millionen starben ausgezehrt in ihren Katen oder emigrierten von der Insel. Schwimmende Seelenverkäufer zogen über die Ozeane, die Passagiere in ebenso miserablem Zustand. Es war eine Tragödie von epischem Ausmaß, der unzählige Iren zum Opfer fielen – eine weitere tiefdüstere Zeit, die das Verhältnis der Iren zu den Engländern noch immer überschattet.
Bis heute prägt diese Zeit die kollektive Psyche. Die Iren sind das spendenfreudigste Volk Europas. Kein Wunder: das Ungleichgewicht zwischen Überfluss und Hungertod hat endgültig eine globale Dimension erreicht.

Dark Hedges


Irland also, immer wieder Irland.

Nach über 30 Jahren regelmäßiger und oft mehrmonatiger Besuche und über drei Jahren Gesamtaufenthalt ist er lebendig wie eh und je, dieser Magnetismus, der mich immer wieder auf die Insel zieht. Es sind Tage, Sequenzen, Erinnerungsfragmente die mich begleiten. Eines davon zum Abschied.
Das Ende der Welt hieß The Mullet. Eine hammerförmige Halbinsel, über eine häuserbesprenkelte Landenge mit dem Festland verbunden. The Mullet war amphibisches Land. Flach, so flach, dass die Winterstürme die Gischt darüber hinwegtrieben. Fünf kleine Kerle spielten Fußball. Der Platz die Inkarnation des Faltenwurfs, das Tor ein windschiefer Kasten.
Am Südzipfel schließlich, am Blacksod Point, stand ein Leuchtturm aus Granit. Große Brocken, rundgewaschene Goliathkiesel aus Urgestein, bildeten den Übergang zur See. Die Welt war salzig, klebrig, überall wehten die feinen Tröpfchen der Gischt. Wenig weiter lag ein Friedhof, standen Keltenkreuze am Meer. Ein alter Mann mit ein paar Kühen zog vorbei, dann kam die Nacht. Der Wind sprang gegen die Fenster, leise flehte eine Geige, und die Ruinen der alten Walfangstation bröckelten sachte vor sich hin. Hier war gestern heute und heute morgen. Der Austernfischer schrie und ein paar Stunden später schob sich die Sonne über die Kante der Welt, der alte Wind blies, ein neuer Tag begann.

Weitere Infos zu Hartmut Krinitz findet ihr unter www.hartmut-krinitz.de.

zurück zur Übersicht

Artikel teilen:

Partner Livestreams

Schließen